Grundsätzlich erlaubt das Gesetz in § 910 BGB dem Grundstücksnachbarn das Abschneiden überhängender Äste, Zweige und Wurzeln.
Das Gesetz regelt:
„§ 910 BGB
(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.
(2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.“
Dies steht unter anderem unter dem Vorbehalt naturschutzrechtlicher und nachbarrechtlicher Vorschriften oder ggf. entgegenstehender Vereinbarung der betroffenen Nachbarn.
Was aber ist erlaubt, wenn durch das Abschneiden die Gefahr besteht, dass der Baum des Nachbarn seine für Standfestigkeit einbüßt?
Die Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 11. Juni 2021 gibt Aufschluss darüber. Denn der BGH hat mit Urteil vom 11. Juni 2021 – V ZR 234/19 dazu entscheiden.
Der V. Zivilsenat des BGH urteilte, dass ein Grundstücksnachbar – vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen – von seinem Selbsthilferecht aus § 910 BGB auch dann Gebrauch machen darf, wenn durch das Abschneiden überhängender Äste das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.
Der Streit entzündete sich an einer seit rund 40 Jahren unmittelbar an der gemeinsamen Grenze auf dem Grundstück der Kläger stehenden ca. 15 Meter hohen Schwarzkiefer, deren Äste seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des Beklagten hinüberragen. Nadeln und Zapfen fallen von den Ästen herab. Der Beklagte wollte dies nicht hinnehmen, forderte erfolglos die Kläger zum Rückschnitt auf. Diese kamen dem nicht nach. Der Beklagte schritt selbst zur Tat und schnitt überhängende Zweige selbst ab. Die Kläger verlangten nun im Klageweg von dem Beklagten, es zu unterlassen, von der Kiefer oberhalb von fünf Meter überhängende Zweige abzuschneiden. Sie machen geltend, dass das Abschneiden der Äste die Standsicherheit des Baums gefährde.
Die Kläger bekamen in den Vorinstanzen zunächst Recht, dem trat der unter anderem für das Nachbarrecht zuständige V. Zivilsenat des BGH nun entgegen, hob das Berufungsurteil des Landgerichts Berlin – Urteil vom 9. September 2019 – 51 S 17/18 auf und verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück.
Die Bundesrichter wiesen darauf hin Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB nach der Vorstellung des Gesetzgebers einfach und allgemein verständlich ausgestaltet sein sollte und daher insbesondere keiner Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung unterliegt. Zudem liegt die Verantwortung dafür, dass Äste und Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen, bei dem Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Baum steht; er ist hierzu im Rahmen der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks gehalten. Verstößt er gegen diese Verpflichtung, muss er auch die Gefährdung der Standsicherheit oder gar das Absterben seiner Gewächse, von denen der Überhang ausgeht, hinnehmen.
Das Selbsthilferecht kann aber lt. BGH durch naturschutzrechtliche Regelungen, etwa durch Baumschutzsatzungen oder -verordnungen und durch § 910 Abs. 2 BGB, eingeschränkt sein. Das Berufungsgericht muss deshalb nunmehr klären, ob die Nutzung des Grundstücks des Beklagten durch den Überhang beeinträchtigt wird. Ist dies der Fall, dann ist die Entfernung des Überhangs durch den Beklagten durch die Kläger zu dulden, weil zumutbar, selbst wenn dadurch das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.
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